Rezension zu: "Meer-Maid"

von Sucram NebelDatum hinzugefügt: Montag, 27. Juli 2015Kann Dichtung glitzern? Für Franziska Ruprecht, die Performance Poetin aus Detroit, sicherlich. Die Wörter werden zur Show, die Zeilen zur Bühne, auf der sie auf und ab tanzen, und die Strophen zum theatralen Raum. Darin sitzt der Leser (oder die Leserin) und kann sich von der Stimme Ruprechts berauschen lassen, wenn er sie denn kennt. Denn die Gedichte wollen aufgeführt und nicht nur gelesen werden. Das Buch liest sich also wie eine Art Liedtextsammlung aus den Sparten Rap, Musical und Poetry Slam. Ein paar wenige Texte wurden bereits vorveröffentlicht, unter anderem in bekannten Anthologien deutschsprachiger Slam Poetry. In München ist Franziska Ruprecht als Varietee Moderatorin, Slam Poetin und Lehrbeauftragte an der Universität und für Workshops bekannt, und wer sie auf der Bühne gesehen hat, kennt sie als Meer-Maid, Punk-Elfe oder GOLDSTÜCK, was ruhig mehrdeutig verstanden werden kann. Die Texte reichen also von prämierten Bühnentexten (“Sprechgesang auf München”) bis zu alltäglichen Aphorismen (“Frau aus Glas”), immer mit einem Schuss Humor und Seelenleid. Manche Neologismen sind tatsächlich genial, wie “Fruchtfleischfunken” (aus “ORANGE”). Redewendungen wie “vor Liebe dahinschmelzen” werden zum denglischen Zuckerschlecken ummodelliert (wie in “ZUCKER!”). Das Repertoire reicht von der postmodernen Brechtballade (“SCHILLERFISCH”) bis zur Liebesdichtungspromotionspersiflage (“Herumdoktern”) und zum poetologischen Road Movie Poem (“Blind fahren”). Ruprecht spielt mit den Wörtern in poststrukturalistischer Manier und kreiert so “Diskotiere” (wie in “GHETTO ADONIS”). Sie verarbeitet Mythologien wie von Kassandra oder der Lorelei (aber hätte das nicht unbedingt im Quellenverzeichnis anführen müssen). Denn am stärksten wirken diese Wiederaufnahmen, auch vom eigenen “Meer-Maid”-Motiv, wenn sie nicht explizit genannt werden, wie in “Es dauert”. Das Buch wird also zum Lesegenuss für den, der sich die Texte als Bühnentexte vorstellen kann, getreu nach dem Motto, das die ganze Welt, oder zumindest die Literatur, eine Bühne braucht: “Ich fahr da blind rein/…/Raste nicht gleich/ aus um dieses Mal/ das Rad neu zu erfinden/ oder einfach back to the roots zu/ vor den Unfällen./…/ich setz mich künstlich dahinein/ Wagen/ navigier super mit Worten/ ins Bittewenden/ STILL!” (aus “Blind fahren”). Für Walter Benjamin war das Buch historisch wie politisch, eine Einbahnstraße für Sehende, für Franziska Ruprecht ist es eine Auto- und Achterbahn für Blinde. Die Avantgarde glitzert nicht mehr nur im Dunklen, “and the beat goes” on.

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