Svenja Herrmanns neue Gedichte erkunden die Schnittstelle zwischen der bedrohten Natur und unserer Zivilisation. An diesem Ort leben Einsame, Sehnsüchtige, Vergessene, aber es sind auch Momente des Glücks möglich, wenn die Natur sich für einmal durchsetzt.
Little Odessa
Durch die Trasse der Hochbahn fällt Licht
überzieht die Avenue mit einem Schachbrett
wo Könige und Bauern keinen Platz finden
the every day smile nie angekommen ist
Zwischen den Regalen der Bäckerei
zwängt ein Mann den Rollator hindurch
in seinem Buckel nistet Heimweh
Brot wird eingetütet
dazu ein paar Brocken Russisch
Metallisch hämmert die Bahn über ihm
er schiebt den Wagen über blinkende Karos
vorne am Ufer wird er nach Odessa blicken
den Duft des Gebäcks, des Meers in der Nase
umgekehrt träumen
Rezension aus dem Tages-Anzeiger ( 25.03.2017 )
Kurz & kritisch, Literatur
Svenja Herrmanns Gedichte in Bewegung
«Böüm sin Böüm», dichtet Beat Sterchi lapidar und tautologisch. Mit Bäumen hat es auch Svenja Herrmann in ihrem zweiten Lyrikband, der beim Wolfbach-Verlag erschienen ist. Im Titelgedicht sind sie in Bewegung, und sie bewegen selbst etwas: Bilder und Gedanken. Die Texte der 1973 in Frankfurt geborenen und in der Schweiz aufgewachsenen Autorin sind zart, aber nicht ohne Dynamik: Sie veranlassen die Leser, sie weiterzuspinnen, Leerräume zu füllen. «Wenn die Fliege vor dem Fenster / die Propeller des Ahorns jagt – / ein gutes Zeichen»: Ja, wofür? Die Frage darf jeder für sich beantworten.
Oft sind Naturphänomene Auslöser der poetischen Bewegung, Landschaften, aber auch Bilder oder städtische Szenerien. Der Blick der Lyrikerin wandert umher, dann setzt er sich nach innen fort, um in Sprache gefasst wieder zurückzukommen in die Aussenwelt. Es macht Freude, den subtilen Einsatz der poetischen und rhetorischen Mittel zu beobachten: Assonanzen, Binnenreime, Anapher, Zeugma. Unverkennbar ist auch das Vergnügen der Dichterin an der Ausdruckskraft des Klanges, wenn sie Verben benutzt wie «brutzeln» oder «scheppern».
Zu den Stärken der Gedichte gehört das ausgeprägte Rhythmusgefühl Svenja Herrmanns und die innere Korrespondenz über die Seiten hinweg: Erscheint ein Schatten anfangs noch als bedrohlich, so wird er später im Band im Hof aufgehängt: zum Bleichen. Etwas irritierend und der Wirkung eher abträglich ist lediglich die Vorliebe für den Plural. Damit werden Konturen verwischt, das Detail franst aus ins Allgemeine. Etwa in diesem Zweizeiler: «Im Spiegel regloser Augen / ihre erhängten Körper».
Martin Ebel